Elftes Gebot
Am Tag der Beisetzung des Papstes Johannes Paul II. im Jahr 2005 wimmelte es in Rom nur so von Menschen. Roberto Saviano schreibt in seinem Buch "Gomorrha" "Unmöglich zu sagen, in welcher Straße wir waren, ich erinnere mich nur noch an ein riesiges Bettlaken, aufgespannt zwischen zwei Häusern. Es trug die Aufschrift ››Elftes Gebot: du sollst nicht drängeln, dann wirst auch du nicht bedrängt werden. ‹‹ In zwölf Sprachen."
Regelmäßig begleite ich meine Mutter zu Konzertbesuchen. Obwohl selbst nicht mehr der Jüngste, findet sich dort ein Publikum ein, das mich jung erscheinen lässt. Anders ausgedrückt das Auditorium, das dort der klassischen Musik lauscht, ist mehrheitlich weißhaarig. Beim Besuch dieser Konzerte ist es üblich, seinen Mantel an der Garderobe abzugeben. Von Anfang an hat mich erstaunt und irritiert mit welcher Resolutheit die durchweg älteren Menschen am Ende des Konzertes darauf drängen Ihre Garderobe wiederzuerlangen. Das hätte ich Menschen dieses Alters und einem Kreis, der sich selbst zweifellos für kultiviert hält, nicht zugetraut.
Dass in England "Standing in a queue" selbstverständlich ist, hat mich immer fasziniert. In Deutschland habe ich ein solches Verhalten niemals erlebt. Selbst wenn es um so etwas Banales wie das Warten auf das nächste Taxi am Flughafen geht, habe ich schon erlebt, dass sich Leute ungeniert vordrängten, obwohl sie noch nicht an der Reihe waren. Hierzulande gilt das Prinzip des Stärkeren oder Frecheren.
Diese Überlegungen haben mich zu der Frage gebracht, ob man eine Panik wie 2010 in Duisburg anlässlich der Loveparade allein den für die Sicherheit Verantwortlichen anlassten darf.
Es liegt mir fern, den Opfern Schuld zuweisen zu wollen oder die für die Sicherheit Zuständigen aus der Verantwortung nehmen zu wollen. Die Phänomene, die zu Gedränge und schließlich zur Panik führen, sind schließlich nicht erst seit dem Vorfall in Duisburg bekannt.
Dennoch stelle ich mir die Frage, ob ein Gedränge nicht auch ein Ausdruck mangelnder Kultiviertheit ist. Wie ist es um die Rücksicht untereinander bestellt.
Ist es naiv, die Frage zu stellen, warum nicht jeder einfach stehen bleiben und Abstand zum Vorder- und Nebenmann halten kann, wenn klar ist, dass es nicht vorwärts geht? Ist es nicht ein Gebot der Höflichkeit, dem anderen nicht auf die Pelle zu rücken?
Der Titel der Veranstaltung suggeriert, dass sich ein Menschenschwarm treffen kann und sich alle, wenn nicht wörtlich so doch dem Geist nach, liebend in den Armen liegen. Die Realität sieht leider anders aus. Nicht nur die Heuschreckenschwärme zerstören das Gelände, auf dem sie sich niederlassen. Und auch das Motto der Veranstaltung ändert nichts an der Tatsache, dass der Mensch sich zwar gern als soziales Wesen sieht, im Kern aber ein Egoist ist, der, wo und wann immer es geht, seinen eigenen Vorteil sucht. In der Masse versuchen egoistisch handelnde Personen schneller voranzukommen.
Nicht überraschend geben Betroffene offen zu, dass sie, als Panik ausbrach und es ums Überleben ging, wieder zum Tier wurden, wenn sie es nach Darwins Theorie nicht bereits vorher waren.
Staus auf der Autobahn werden von Wissenschaftlern gern als unvermeidlich dargestellt. Das trifft zu, da sich Autofahrer so verhalten wie sie sich verhalten. Wer glaubt, er stehe im Stau, irrt. Er ist der Stau! Die Theorie besagt, dass Autofahrer nicht imstande sind, in einer Kolonne mit gleichem Abstand und Tempo zu fahren. Es entsteht der Ziehharmonika-Effekt. Die menschliche Reaktionsfähigkeit verstärkt in den hinteren Regionen der Kolonne diesen Effekt. Das beliebte Spurwechseln bringt noch mehr Unruhe in die Kolonne. Mir kann keiner erzählen, dass es kein Potenzial für harmonischeres Verhalten und damit für weniger Staus gibt. Die Autofahrer spielen da allerdings nicht mit. So zu tun als ob alles unvermeidbar sei und dem Fatalismus zu frönen, halte ich allerdings für falsch.
Kann ein solches Modell auf Fußgänger übertragen werden? Es wird getan! Also alles unvermeidbar? Diesselbe Situation und es kommt zwangsläufig zu demselben Ergebnis? Jederzeit reproduzierbar? Ich vermisse in diesem Modell den homo sapiens. Fische und Vögel können das offenbar besser.
Wer von einem unvermeidbaren Automatismus bei der Panik während der Loveparade, ausgelöst durch die große Menschenzahl und dem Nadelöhr Tunnel, spricht, greift meines Erachtens zu kurz, da er Ursache und Wirkung unzureichend berücksichtigt. Die Ursache für die Panik war die drangvolle Enge. Wie konnte diese Enge entstehen? Allein durch die große Anzahl an Menschen? Mir bleiben Zweifel.
Es ist zweifellos bequemer, die Schuldigen in den Reihen der städtischen Beamten und des Veranstalters zu suchen.
Ich bin im übrigen nicht Duisburgs Bürgermeister.
Nachtrag:
Sie vermissen eine Erklärung, weshalb ich Blogger wurde?
Nun, ich fand, dass alle Stimmen, die sich zu der Panik 2010 in Duisburg anlässlich der Loveparade äußerten, zu selbstverständlich davon ausgingen, dass viele Menschen auf einem Haufen zwangsläufig zu Gedränge und Panik führen müssen. Diese Kausalität sehe ich in dieser Absolutheit überhaupt nicht. Das Verhalten jedes einzelnen Individuums hat einen Einfluss auf die Bewegung der Masse. Und diesen Gedanken wollte ich "zu Papier" bringen. So wurde ich zum Blogger.
breazzless am 03. August 10
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4 Kommentare
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Sicherlich nicht dumm, sich generell von solchen Menschenmassen fernzuhalten.
Mir persönlich wird's ja schon oft in der U-Bahn oder im Supermarkt zuviel... ; )
... haben mich stutzen lassen:
Dennoch stelle ich mir die Frage, ob ein Gedränge nicht auch kulturabhängig ist.
Ist es nicht ein Gebot der Höflichkeit, dem anderen nicht auf die Pelle zu rücken?
> Höflichkeit ist absolut kulturabhängig, deswegen ist es nicht selbstverständlich, dass man jemandem nicht "auf die Pelle rücken" darf. Ich persönlich finde nicht, dass wir eine ausgeprägte Ellenbogenmetalität haben - ich halte die Deutschen im Vergleich sogar für relativ höflich (nach deinem Maßstab von Höflichkeit).
Ich verwende das Wort "Kultur", man könnte stattdessen auch das Wort "Kultiviertheit" verwenden, als Synonym für den Umgang von Menschen miteinander. Der Kulturkreis spielt für mich keine Rolle.
Es ist mein subjektives Empfinden, dass es unhöflich ist, jemandem auf die Pelle zu rücken. Es gibt zweifellos Situationen, in denen enger Kontakt gewünscht wird. Wenn allerdings ein Verhalten dazu führt, dass Menschenleben bedroht werden, dann sollte dies zu einem Umdenken führen. Ich kann mir im übrigen auch nur schwer vorstellen, dass jemand ein vollbesetztes Passagierflugzeug mit angenehmem engen Kontakt assoziiert. Genausowenig wie ein Gedränge als positiv empfunden wird.
Wenn es in einem anderen Kulturkreis Sitte ist, nicht alles aufzuessen, dann bin ich nicht bereit mich daran zu halten, weil ich es für falsch halte. Jedem sollte klar sein, dass die Produktion von Nahrungsmitteln Ressourcen verbraucht. Bekanntlich produziert der Reisanbau das Treibhausgas Methan. Was ich nicht esse, hat sinnlos Methan erzeugt. Wenn die Reste an die Schweine verfüttert werden, findet zwar eine Verwertung statt aber das Schwein hätte auch mit etwas vorliebgenommen, das weniger Methan emittiert.
Wenn ich Fleisch auf dem Teller liegen lasse, dann missachte ich in letzter Konsequenz, dass dieses Tier für mich sein Leben lassen musste.
Wenn ein Autofahrer meint, dass Blinken nur etwas für Doofe ist- was nicht eben wenige zu finden scheinen -, dann ist das mir gegenüber unhöflich, wenn ich anhalten muss, obwohl ich es nicht hätte tun müssen, wenn er mir seine Absicht angezeigt hätte. Auch das oben erwähnte Vordrängen am Taxistand ist unhöflich gepaart mit Ellenbogenmentalität.
Ich sehe darüber hinweg, da auch ich nicht fehlerfrei bin. Banalitäten? Ja, dennoch bleibt ein solches Verhalten in meinen Augen eindeutig unhöflich.
Vielleicht sind wir Deutschen noch relativ höflich und zeigen relativ wenig Ellenbogenmentalität. Dennoch existiert beides unübersehbar.
...für deine ausführliche Erklärung!
>Es ist mein subjektives Empfinden, dass es unhöflich ist, jemandem auf die Pelle zu rücken.
Genau so sehe ich es auch. Es klang im Beitrag so, als ob es doch jedem Menschen einleuchten müsse, was unhöflich ist und was nicht, wobei Höflichkeit dann objektiv "messbar" wäre.
Ich glaube, dass der Kulturkreis immer auch eine Rolle bei dieser Bewertung spielt, da kein Mensch wertfrei aufgewachsen ist bzw. wir in unseren Wertvorstellungen unvermeidlich von unserem kulturellen Umfeld beeinflusst werden.
Es erscheint mir problematisch, von etwas subjektivem/kulturabhängigem wie Höflichkeit auf die Natur des Menschen zu schließen (ist er sozial veranlagt oder doch ein Egoist?). Problematisch deshalb: Einige Kulturen wären nach diesem Maßstab weniger sozial bzw. menschlich als andere.